Sarah Wauquiez, September 2020
Kommen Sie mit mir auf einen kurzen Spaziergang in die nahe Zukunft. Wir gehen nicht weit weg, nur mal schnell über die Grenze. Ins Land der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Seit vier Jahren wohne ich in Frankreich. Ich habe das Land nie anders als in Notrechtsstimmung erlebt. Nicht wegen Angst vor einer Virenattacke, sondern wegen möglicher Terroranschläge. Seit 2015 wurde das Notrecht fünfmal verlängert, 2017 wurde es aufgelöst – und praktisch alle Massnahmen des Ausnahmezustandes ins allgemeine Recht übernommen.
Dadurch werden der Polizei und den Präfekten Kompetenzen erteilt, die sie im Normalzustand nicht ohne Eingreifen der Justiz ausüben könnten.
Sie sind ermächtigt, Zugang und Personenzirkulation bei Grossanlässen (Sportanlässe, Konzerte, Demonstrationen) zu beschränken sowie Autos zu durchsuchen. Als ich mit meinen Kindern das Konzert der „Kids United“ besuchte, starrten uns am Eingang ein Dutzend schwerbewaffnete Militärs entgegen. An einem Kinderkonzert.
Sie dürfen über verdächtige Personen Hausarrest verhängen, ohne juristische oder behördliche Anforderung ihr Haus durchsuchen, sie unter elektronische Überwachung stellen und ihre Kommunikation über Telefon und Internet kontrollieren.
Auch Schliessung von Kultstätten und verstärkte Kontrollen, insbesondere an Grenzbahnhöfen, sind möglich. In der Pariser „Gare de Lyon“ kam ich mir vor wie an einem Flughafen-Check-In: Der Zugang zum Quai ist nur möglich nach elektronischer Kontrolle des Tickets und unter Militärpräsenz, Taschen werden durchleuchtet, Personen abgetastet.
„Tenir à l‘écart la justice“ – die Justiz fernhalten – betitelte Le Monde den Geist dieser Verankerung des Notrechts in der Normalität. Kurz nach seiner Inkraftsetzung verurteilte Amnesty International dieses Vorgehen, das unverhältnismässig eingesetzt werden könnte, um Demonstrationen zu unterdrücken. Die „Gilets Jaunes“ können das inzwischen unterschreiben.
Der „Plan Vigipirate“ ist heute noch aktuell. Als Sicherheitsmassnahmen zum Schutz gegen Terrorismus angekündigt, schränken die Anti-Terror-Massnahmen seit 1978 die Freiheit und Privatsphäre der Bevölkerung ein. Seit 2005 gilt Alarmstufe 3: „Hohe Bedrohungswahrscheinlichkeit / Verhinderung eines ernsten Anschlages“, heute umbenannt ins besser verdauliche „Alerte Attentat“. Als ich, frisch in Frankreich angekommen, im Zug mit Werkzeug zu meiner Arbeit fahren wollte, wurde ich vom Schaffner flugs wieder hinausbefördert. Das Werkzeug draussen lassen und wieder einsteigen gehe nicht, ich gelte als verdächtige Person. Primarschulkinder dürfen nicht mehr alleine von der Schule nachhause laufen. Die Lehrpersonen müssen kontrollieren, dass ein dafür befugter Erwachsener sie vor dem Schulhaus in Empfang nimmt. Als wir der Schulleiterin unterschrieben, dass unsere Kinder mit irgendjemandem nachhause gehen und in Freistunden auch alleine im Dorf herumstrolchen dürfen, wollte sie das nicht glauben.
Dann kam Corona, und dann die Corona-Massnahmen: Schul- und Geschäftsschliessungen, Ausgangssperre (eine Stunde begründeter Aufenthalt ausserhalb des Hauses pro Tag war erlaubt), Maskenpflicht. Und schon wieder Notrecht. Wälder und Stadtpärke durften nicht mehr betreten werden. Für unsere Gesundheit. Und von Gleichheit keine Rede: Auf dem Land lebten und werkten wir relativ frei und hatten Bewegungsraum, die StadtbewohnerInnen wurden eingepfercht und überwacht, ortsweise sogar mit Sperrzeiten und Sirenen.
Am 11. Juli war dann alles vorbei – das Notrecht wurde aufgehoben. Und abgelöst von einer fragwürdigen juristischen Übergangslösung, die weder Notrecht noch allgemeines Recht ist. Philippe Bas, Senator des Departements „Manche“, bezeichnet dieses Übergangsrecht ebenfalls als Notrecht und verlangte für seine Legitimation den Beweis einer sanitären Notlage. Esther Benabassa, Parlamentarierin von Paris, sieht es als Verlängerung der Freiheitseinschränkung der Bürgerinnen und Bürger, die sich nun im allgemeinen Recht niederschlägt. Das Übergangsrecht erlaubt ausserordendliche Restriktionen bis am 10. November: Einschränkung des öffentlichen und privaten Verkehrs, der Personenzirkulation, Schliessung von öffentlichen Lokalen und Institutionen, Versammlungsverbot, obligatorischer Corona-Test für Flugreisende, Verlängerung der Maskenpflicht im ÖV bis nach November 2020. Drinnen im öffentlichen Raum gilt weiterhin Maskenpflicht ab 11 Jahren – also auch in der Schule, im Kino, im Restaurant (die Maske darf kurz abgelegt werden, wenn etwas in den Mund eingeführt wird). Die Gemeinden können das Gesetz verschärfen und Maskenpflicht auch in der Strasse, im Stadtpark, im offenen Sportgelände oder am Strand anordnen. Was aktuell in immer mehr Städten Frankreichs geschieht.
Und was geschieht nach dem 10. November? Wie kommen wir aus der Not wieder zum Recht?
Frau Freiheit ist kurzfristig zurückgetreten und hat der Sicherheit ihren Sitz überlassen. Die Früchte der Gleichheit werden vermehrt ungleich verteilt, und die Brüderlichkeit ist zum Grossen Bruder erwachsen. Ich wünsche mir für Frankreich einen neuen Slogan: Freiheit – Vertrauen – Verantwortung. Denn wer Vertrauen und Verantwortung sät, erntet kurzfristig Freiheit und langfristig Demokratie. Bringen Sie doch etwas von diesen Samen an Ihren Sohlen mit zurück in die Schweiz.